Abitur 1998 am FvSG

-> Mord und Totschlag
Der Deutsch LK bei Frau Fritsch
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Es waren einmal vor wenigen Jahren eine Menge mehr oder weniger motivierter SchülerInnen, die hatten beschlossen, den Weg des geringsten Widerstandes zum Abitur zu gehen. Also wählten sie Deutsch als Leistungskurs. Doch nur eine Handvoll dieser SchülerInnen landete dann schließlich im Kurs von Frau Fritsch. Unter diesen ausgewählten Eliteschülern befand ich mich glücklicherweise auch.
Doch schon bald bemerkten wir zu unserem Erschrecken, daß Deutsch ja auch Arbeit bedeutet. Bei Frau Fritsch äußerte es sich darin, daß wir sage und schreibe 91 + 399 + 707 + 120 + 110 + 58 + 182 + 135 + 103 Buchseiten lesen mußten (wie viele das insgesamt sind, müßt ihr schon selbst rechnen - wir sind ja schließlich kein Mathe LK). Und das waren nur die Bücher. Dazu kamen noch diverse Gedichte (mehr oder weniger lesbar) und viele, viele Seiten Sach-texte. Bei dieser Überbelastung kann wohl jeder verstehen, daß die Fehlstundenzahl nach kurzer Zeit immens anstieg (Zitat Frau Fritsch: "Einer fehlt doch immer."). Vielleicht war aber auch die emotionale Belastung einfach zu stark. Neben diversen Untaten wie Vergewaltigung, Verführung Minderjähriger, Diebstahl, Betrug, Zersingen von Fensterscheiben, Erpressung, versuchte Abtreibung mit einer Schere, hatte die Literatur diverse Trauerfälle zu beklagen. Eteokles, Polyneikes, Antigone, Haimon, Eurydike, der Gouverneur, Ferdinand und Luise, der Schaumweinfabrikant Engelbert Krull, Joseph Koljaiczek (alias Wranka), Agnes Matzerath (geb. Koljaiczek), Alfred Matzerath, Jan Bronski, der Gemüsehändler Greff, der Hausmeister Kobyella, Fausts Kind und sein geliebtes Gretchen --- wir gingen über Leichen.
Doch war es nicht lehrreich? So lernten wir doch alle Facetten des Todes kennen. Vom Selbstmord durch Aufhängen an der Kartoffelwaage (Greff) über Erschießen (Kobyella, Jan Bronski, E. Krull), Vergiften (Ferdinand und Luise), Köpfen (der Gouverneur), Erhängen (Antigone), Erstechen (Haimon, Eurydike), Ertränken (Fausts Kind) bis zum
Ersticken an einem verschluckten Parteizeichen eröffneten sich uns immer neue Möglichkeiten, das Leben in angemessener Art und Weise zu beenden. So mancher Schüler begann, angeregt von der ihm dargebotenen Literatur, an der Wahrscheinlichkeit eines natürlichen Todes zu zweifeln. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Dank Gottfried Benn wurden wir völlig aus unserer Welt der Illusionen gerissen. Seine Berichte aus einer Pariser Leichenhalle in Form von Gedichten nahmen uns den letzten Respekt vor Toten. Einem ersoffenen Bierfahrer wurde Holzwolle in die Brust genäht, Ratten bauten sich ein Nest in der Brust eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte...
Wie waren wir froh, als der Unterricht sich schließlich auf den Fernseher verlagerte, der nun zu jeder Stunde aus dem Erdkunderaum geliehen wurde. Unsere einschlägige Erfahrung mit amerikanischen Happy-End-Movies ließ die Hoffnung auf mehr Überlebende aufkeimen.
Doch vergebens! In "Jakob der Lügner" wurden alle handelnden Personen (abgesehen vom Erzähler) im KZ ermordet. Fernsehberichte, aber auch Texte über die vielen Opfer des zweiten Weltkrieges bildeten den geschichtlichen und nachdenklichen Teil unserer Stunden
Schließlich schien es uns geradezu ein irrer Zufall zu sein, daß wir bei diesem Mord und Totschlag noch lebendig geblieben waren. Doch obwohl so mancher vielleicht jetzt schon sein Testament verfaßt hat, schreiten wir nun endlich zum ersehnten Abitur. Bereichert um Nachdenklichkeit und eine gehörige Portion schwarzen Humor, bereichert um die Erkenntnis, daß man durch rosa Marzipanschweinchen auch keine besseren Klausuren schreibt, daß Herr Schielke eine sehr laute Stimme hat, daß Bertolds Musik ein Brechtmittel ist, daß man sich morgens schon mal wegen dem viel zu heißen Kaffee verspäten kann, daß Frau Fritsch das beste Rezept für Nudelsalat hat, und daß Deutsch auf die Gesundheit schlagen kann, sind wir zu unserem vorläufigen Ziel gelangt, ich würde sagen: Mehr Brecht als schlecht.
(ln)




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